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Glanz und Elend herrschaftlicher Häuser

Sonderausstellung im OL zu Mythos und Wirklichkeit der Herrenhäuser im Baltikum

Hansestadt, 01.12.2012 - Viele Jahrhunderte lang prägten stattliche Herrenhäuser den ländlichen Raum im Baltikum - bis diese Welt im 20. Jahrhundert ein jähes Ende fand. Die Erinnerung der Deutschbalten, der Esten und Letten an diese Zeit ist nicht nur mit vielen Mythen behaftet, sie erscheint oft auch auffallend vage und unscharf. Welche Rolle aber spielten Guts- und Herrenhäuser? Waren sie Ausdruck von Macht, Reichtum und Ausbeutung? Oder Mittler westeuropäischer Kultur ins Zarenreich? Eine neue Ausstellung im Ostpreußischen Landesmuseum (OL) will deutschbaltische Geschichte und ihre Verankerung in der estnischen und lettischen Nationalgeschichte vor Augen führen.

Die Ausstellung lässt eine faszinierende Vergangenheit wieder aufleben. Allein die großartige Architektur begeistert, auch wenn sie ganz unterschiedlich ausfiel. Es gab kleinere Holzbauten, aber eben auch schlossähnliche Paläste mit ausgedehnten Parkanlagen, die noch heute eine unglaubliche Pracht verströmen und in ihrer Schönheit verzaubern. Sie prägten das ländliche Leben auf dem Gebiet der heutigen unabhängigen Staaten Estland und Lettland.

Zugleich waren die Herrenhäuser der Mittelpunkt eines ganzen Mikrokosmos, des landwirtschaftlichen Gutsbetriebes mit Feldern, Wirtschaftsgebäuden und Gesindehäusern; ihr erwirtschafteter Reichtum war zu großen Teilen der Gutsherrschaft geschuldet. Hier lebten die Gutsherren mit ihren Familien, von ihnen aus wurde das Leben der leibeigenen Bauern dirigiert. Ob Ruhe und Sicherheit, ob wirtschaftliche Verhältnisse oder kirchliche Ordnung, ob kulturelle Ansprüche, Schulen oder Fürsorge - alles hing ab von der Macht der Gutsherren.

Im Unterschied zu deutschen Regionen ging im Baltikum die soziale Schichtung zwischen Gutsherr und Landarbeiter mit einer ethnischen einher - die Gutsherren waren Deutschbalten, sprachen deutsch und orientierten sich kulturell wesentlich am westlichen Europa; die bäuerliche Schicht bestand hingegen aus Esten und Letten.

Seit dem 19. Jahrhundert wurde diese Ordnung zusehends in Frage gestellt: durch die Vorbereitung und Durchführung der Bauernbefreiung einerseits, andererseits durch die beginnende nationale Bewegung unter Esten und Letten parallel mit den Bemühungen der russischen Regierung, den Einfluss der deutschen Oberschicht zurückzudrängen. In der russischen Revolution 1905 traten Spannungen offen zutage, als estnische und lettische Bauern Güter überfielen und Herrenhäuser, für sie Symbole ihrer Abhängigkeit und Unterdrückung, zerstörten und Gutsherren erschlugen. Die am Ende des Weltkriegs unabhängig gewordenen Staaten Estland und Lettland vollendeten diese Entwicklung mit der Enteignung der Güter.

Nach der Umsiedlung der Deutschen im Zuge des Hitler-Stalin-Paktes 1939 bleiben als Zeugen der Jahrhunderte währenden Ordnung nur die Gebäude, die Gutshäuser mit inzwischen sehr unterschiedlichen Nutzungen. Sie geben jedoch Anlass, die in ihnen verborgene Geschichte zu ermitteln.

Über 200 Exponate aus Deutschland und dem Baltikum spannen den Bogen von der Leibeigenschaft über die Befreiung der Bauern, von der beginnenden Industrialisierung zu den Russischen Revolutionen 1905 und 1917 und der Unabhängigkeit Estlands und Lettlands vom untergegangenen Zarenreich, von der Enteignung der Güter bis zur Umsiedlung der Deutschbalten.

Die Objekte der Ausstellung erzählen von der Lebensart und dem komplexen Beziehungsgeflecht der Menschen auf den Gütern: Gutsherrn, Landarbeiter, Handwerker, Hauslehrer, Pastoren und viele andere. Gemälde, Architekturmodelle, Möbel, Hausinventar, Fotos und Kleidung beleuchten das faszinierende Miteinander über die Jahrhunderte bis hin zum gegenwärtigen Umgang mit diesem Kulturerbe im Baltikum. Sie sind zudem deutlicher Ausdruck für die Einbeziehung des Baltikums in die abendländisch-europäische Welt.

Möglich wurde die Vielfalt der Ausstellung durch die länderübergreifende Zusammenarbeit mit Museen und Archiven in Estland, Lettland und Deutschland sowie durch Leihgaben aus dem Bestand der Deutschbaltischen Kulturstiftung und aus Familienbesitz; zudem einer engen Kooperation mit dem Herder-Institut Marburg und seinen Sammlungen.

Eine Ausstellung des Ostpreußischen Landesmuseums und der Carl-Schirren-Gesellschaft Lüneburg unter der Schirmherrschaft von Gert Lindemann, niedersächsischer Minister für Ernährung, Landwirtschaft, Verbraucherschutz und Landesentwicklung.

Die Ausstellung wird bis zum 14. Oktober 2013 gezeigt. Weitere Informationen unter www.ostpreussisches-landesmuseum.de.