header

Von Durchgesetzt bis Durchgefallen

Lüneburger Politiker zum Berliner Koalitionsvertrag

Lüneburg, 28.11.2013 - Die Weichen für eine neue Bundesregierung aus CDU, CSU und SPD sind gestellt, gestern verständigten sich die Verhandlungspartner auf einen gemeinsamen Koalitionsvertrag. Bis Sonntag können jetzt die SPD-Mitglieder ihr Votum für oder gegen eine Große Koalition abgeben. Was Lüneburger Politiker zu dem schwarz-roten Regierungsprogramm sagen, hat LGheute zusammengetragen. Die Bewertungen sind je nach Regierungsbeteiligung erwartungsgemäß unterschiedlich, die jeweiligen Schwerpunkte - trotz der vielen Zeilen - dennoch interessant.

CDU

Der CDU-Bundestagsabgeordnete Eckhard Pols ist insgesamt zufrieden mit dem Vertragswerk: "Der Koalitionsvertrag trägt eindeutig die Handschrift der Union. Wir konnten uns in wesentlichen Punkten durchsetzen.“ Beispiele hierfür seien unter anderem, dass es keine Steuererhöhungen durch Einführung einer Vermögensteuer und Reichensteuer oder auch die Erhöhung der Erbschaftsteuer - alles zentrale Forderungen der SPD - geben wird. 

Der Koalitionsvertrag sehe unter anderem dringend notwendige Investitionen in die öffentliche Verkehrsinfrastruktur vor, für die insgesamt fünf Milliarden Euro zusätzlich zur Verfügung gestellt werden. Auch die finanziellen Mittel für die Städtebauförderung würden von 100 Millionen auf 700 Millionen Euro aufgestockt. "Besonders freue ich mich, dass wir zahlreiche Maßnahmen zur finanziellen Entlastung der Kommunen auf den Weg gebracht haben“, so Pols weiter. "Die Kommunen brauchen wieder mehr Handlungsspielraum. Im Rahmen der Verabschiedung des Bundesteilhabegesetzes reden wir beispielsweise von einer zusätzlichen Entlastung von fünf Milliarden Euro jährlich.“

Laut Koalitionsvertrag soll die LKW-Maut auch auf Bundesstraßen ausgeweitet werden. "In den vergangenen Jahren haben immer mehr LKW die Autobahnen gemieden, um die Mautkosten einzusparen. Ich bin zuversichtlich, dass die Gemeinden in unserer Region nun vom LKW-Durchgangsverkehr entlastet werden“, erklärt Pols. In seinem Arbeitsbereich, der Familien-, Kinder- und Jugendpolitik, gebe es positive Signale durch das neue ElterngeldPlus, zusätzliche Investitionen in den qualitativen Kinderbetreuungsausbau, steuerliche Entlastungen für Alleinerziehende und verbesserte Wiedereinstiegsmöglichkeiten für Frauen und Männer. Erfreut zeigt er sich auch, dass eine Verstetigung der Finanzierung der Mehrgenerationenhäuser vorgesehen ist.

Allerdings habe sich Pols an einigen Stellen auch etwas mehr erhofft. Die Kinderrechte hätten seiner Ansicht nach noch weitergehend gestärkt werden müssen. "Aber ein Koalitionsvertrag besteht nun einmal aus Kompromissen, anders kann unsere Demokratie nicht funktionieren“, so Pols.

 SPD 

"Vor allem für die Menschen, für die wir gekämpft haben und es weiter tun, freut mich das Ergebnis, das die SPD in den Koalitionsverhandlungen erreichen konnte“, stellt Hiltrud Lotze fest. "Der für mich entscheidendste Fortschritt ist, dass der Mindestlohn von 8,50 Euro kommt.“

Weitere wichtige Punkte für die SPD-Bundestagsabgeordnete: "Die Leiharbeit wird gerecht geregelt. Zukünftig gilt: gleicher Lohn für gleiche Arbeit, bei Leiharbeit und Stammbelegschaft spätestens nach 9 Monaten." Und: Anspruch auf befristete Teilzeitarbeit mit einem Rückkehrrecht zur früheren Arbeitszeit. Auch die Lebensleistungsrente mit 850 Euro schreibt sich die SPD auf ihre Fahnen: "Wer immer gearbeitet hat, wird mehr Rente als nur die Grundsicherung bekommen auch, wenn der Lohn nur gering war und wenig in die Rentenkasse eingezahlt wurde. Dafür kommt die solidarische Lebensleistungsrente: mit rund 850 Euro". Dies komme vor allem Geringverdienern zugute und Menschen, die Angehörige gepflegt oder Kinder erzogen haben.

Laut Koalitionsvertrag sollen die Länder zur Finanzierung von Kinderkrippen, Kitas, Schulen und Hochschulen in Höhe von sechs Milliarden Euro entlastet werden. Dazu Lotze: "Damit erhöhen wir die Chancengleichheit. Sollten die veranschlagten Mittel für die Kinderbetreuung für den Aufwuchs nicht ausreichen, werden sie entsprechend des erkennbaren Bedarfs aufgestockt."

Positiv sei auch die Einführung einer Mietpreisbremse sowie ein Stopp für das sogenannte "Fracking“, bei dem mit Hilfe von umweltschädlichen Substanzen Erdgas aus tiefen Gesteinsschichten gewonnen wird.

"Dies sind nur einige positive Ergebnisse des Vertragsentwurfs. Dafür, dass wir bei der Bundestagswahl nur 25 Prozent der Stimmen erhalten haben, konnten wir sehr viele unserer Anliegen für die Menschen umsetzen. Bei unserem Wahlergebnis kann niemand realistisch erwartet haben, dass wir 100 Prozent SPD-Programm umsetzen können", so Lotze.

Grüne

Enttäuscht zeigt sich Julia Verlinden, die grüne Bundestagsabgeordnete aus Lüneburg. Insbesondere für Klimaschutz und Energiewende fehlt ihr ein klarer politischer Wille, der über bloße Lippenbekenntnisse hinausgehe. Zwar bekenne sich die Große Koalition in spe zu einer "erfolgreichen Energiewende“, der Teufel stecke aber im Detail: Viele zentrale Punkte, die für einen effektiven Klimaschutz notwendig wären, würden gar nicht angepackt, sondern ausgebremst. Und es sind Maßnahmen geplant, die sogar gegen das Ziel arbeiten, eine nachhaltige Energieversorgung zu erreichen.

"Es wird laut Schwarz-Rot zum Beispiel kein Klimaschutzgesetz geben", kritisiert Verlinden. Der Emissionshandel werde nicht ausreichend reformiert, um EU-weit einen wichtigen Beitrag zur Reduktion der Treibhausgase leisten zu können. Auch wolle die künftige Merkel-Regierung mit einem gesetzlich festgelegten "Ausbaukorridor“ die Energiewende ausbremsen. "SPD und CDU wollen bis zum Jahr 2035 den Anteil der Erneuerbaren Energien im Strommix auf maximal 55 bis 60 Prozent erhöhen. Das ist deutlich weniger als das, was realistisch wäre und angesichts des Klimawandels dringend geboten ist."

Enttäuschend sei außerdem, dass im Koalitionsvertrag die Energieeffizienzpolitik immer noch nicht aus ihrem Schattendasein heraus komme. Absichtsbekundungen alleine senkten nicht den Energieverbrauch oder die Energiekosten. Dafür brauche es verbindliche Ziele und konkrete Maßnahmen, die über bereits Erreichtes deutlich hinausgehen. "Ohne eine ambitionierte Energieeffizienzpolitik wird die Energiewende in Deutschland scheitern", so Verlinden. Kritisch bewertet sie auch, dass CDU und SPD sich nicht hätten einigen können, wie sie hinsichtlich der Auseinandersetzung zwischen Bund und Land Niedersachsen über die Außerkraftsetzung des Rahmenbetriebsplans Gorleben vorgehen wollen - "das wäre aber ein Signal des echten Neustarts bei der Endlagersuche gewesen", so die grüne Politikerin.

Linke

"Beim Überfliegen des Koalitionsvertrages wurde ich zunächst sehr müde. Sehr viel unverbindliche Platzhalter, viel zu wenig Substantielles. Richtiggehend erschreckend fand ich den energiepolitischen Teil, der genau so aus der Feder von Eon oder RWE kommen könnte. Das ist eine Absage an eine soziale Energiewende", befindet Michèl Pauly von der Links-Partei. Auch die "angeblichen sozialdemokratischen Kernthemen" wie Mindestlohn oder Rente findet Pauly wenig substantiell. Zwar werde ein Mindestlohn erwähnt, nach seiner Einschätzung aber wird aller Voraussicht nach dennoch die nächste Zeit nicht kommen. Dieser Koalitionsvertrag, so Pauly, hätte genauso von CDU und FDP geschrieben worden sein können. Eine sozialere Handschrift sei nicht zu erkennen.

"Ich kann sehr gut verstehen, wenn die SPD-Basis dagegen aufbegehrt, und bin gespannt, wie der Mitgliederentscheid ausgeht. Vermutlich wird die SPD-Parteiführung einmal mehr das Lied der Alternativlosigkeit singen und dass ja eine Neuwahl die SPD schwächen würde. Mit dieser vorgeblichen Alternativlosigkeit im Rücken erwarte ich eine Mehrheit für diesen Vertrag", so Pauly. Sein Fazit aus dem "ziemlich unwürdigen Prozedere zur Regierungsbildung": Um jeden Preis Regieren dürften die Linken niemals mitmachen. 

Persönlich enttäuscht sei Pauly auch von der Europapolitik. Von dem ursprünglichen Ziel der SPD, der europaschädlichen, eindimensionalen Politik des Sparens um jeden Preis ein Ende zu setzen, sei rein gar nichts zu sehen. Stattdessen singe der Koalitionsvertrag das Hohelied auf die Wettbewerbsfähigkeit, "obwohl das Zuviel an Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands gerade droht, Europa zu zerreißen", so Pauly.

FDP

"Dieser Koalitionsvertrag löst keine in unserem Land anstehenden Probleme, sondern er verschärft sie", ist Birte Schellmann von der FDP überzeugt. Unter Schmerzen erreichte Positionen, die jetzt eine wesentliche Grundlage der aktuell günstigen Wirtschaftslage seien, würden leichtfertig aufgegeben oder aufs Spiel gesetzt. "Wer glaubte, seine Stimme einer im Kern bürgerlichen, wirtschaftlich-rational handelnden Partei gegeben zu haben, wenn er die CDU wählt, wird feststellen, dass diese nur noch eine leicht abgewandelte Variante der nach links gerückten Sozialdemokratie ist", so Schellmann.

Was es bedeutet, wenn im Bundestag liberale Argumente gar kein Sprachrohr mehr haben, werde die Gesellschaft sehr bald bitter zu spüren bekommen. Neue Regulierungen, mehr Bürokratie, höhere Belastungen und mehr Schulden seien die Folgen, so Schellmann. Dass die neuen Wohltaten ohne Steuererhöhungen gestemmt werden könnten, sei naives Wunschdenken. 

Konkret kritisiert die FDP-Politikerin, dass weder die sozialen Sicherungssysteme noch der Arbeitsmarkt zukunftsfähig gemacht würden. Die Rentenversicherung werde mit neuen Milliardensummen belastet, die Krankenversicherung nicht zukunftsfähig reformiert. "Arbeitnehmer werden Beitragssteigerungen ihrer Krankenkasse ab jetzt allein finanzieren müssen, da die Arbeitgeberanteile festgeschrieben sind", nennt Schellmann als Beispiel. Auch sei die weitere Entwicklung der EU nur vage skizziert, die EEG-Reform mache die Energiewende noch mehr zur lobbyverträglichen Planwirtschaft.

"Es ist eine rückwärtsgewandte Politik, keine nach vorne gerichtete." Ihr Fazit: "Gabriel kriegt seinen Mindestlohn, Seehofer seine PKW-Maut für Ausländer und Merkel bleibt Bundeskanzlerin. Alle Parteien haben ihre Ziele erreicht. Und die Bürger in unserem Land haben es auszubaden."

Piraten

"Beim Koalitionsvertrag wurden viele Chancen vertan. Aus Sicht der Bürgerrechte ist diese Vereinbarung eine Katastrophe. Das Wort Bürgerrechte kommt zwar in Überschriften vor, aber nicht im Text", sagt Olaf Forberger von der Piraten-Partei. Er kritisiert, dass die Vorratsdatenspeicherung beschlossene Sache sei. Lippenbekenntnisse, die Zugriffsrechte restriktiv zu gestalten oder Speicherfristen kurz zu halten, traue er nicht über den Weg: "Nach wie vor fehlen jegliche Beweise für die Verhältnismäßigkeit und Effektivität dieses Grundrechtsübergriffs."

Die angekündigte Stärkung von OpenData nimmt Forberger indes mit Wohlwollen auf. "Ich bin gespannt, ob wir auch amtlich erstellte Geodaten unter freier Lizenz sehen werden."

Weitere Kritikpunkte des Piraten: Der deutsche Waffenexport solle ungebremst fortgesetzt werden, die Energiewende werde nur halbherzig angegangen. Sein Fazit: "Es wäre gut, wenn die SPD-Mitglieder diesem geplanten Trauerspiel ein Ende bereiten würden."

AfD

"Es kommt alles, wie es - leider! - zu erwarten war, schade um die lange Zeit des Stillstands für, ja, welches Ergebnis eigentlich?", fragt sich Michael Recha von der Alternative für Deutschland.  

Für ihn ist die jetzt laufende SPD-Mitgliederbefragung unsinnig und undemokratisch: "Es sollen frei entscheidende Volksvertreter an eine parteiliche Minderheitenmeinung gebunden werden, nachdem deren beste Köpfe ihr Bestes gegeben haben? Wer trägt eigentlich noch Verantwortung am Ende? Alles nur der Taktik wegen. Wir leben in einer oberflächlichen Mediendemokratie."

Dazu passe auch, dass es große Gesten und neue Ausgaben zulasten der Mehrheit gebe. Die zentralen Aufgaben hingegen blieben offen und strittig. "Es ist das Haus aufgestockt worden, ohne die Fundamente zu sanieren oder die Statik zu prüfen, ob das windschiefe Flickwerk auch bei Sturm noch hält", so Recha. Sobald die Wirtschaft bei uns oder in Frankreich anfange zu straucheln und sobald europäische Banken umfallen und über ESM und EUB gerettet werden müssen, werde dieser Koalitionsvertrag nichts dazu zu sagen haben, beklagt der AfD-Politiker.

Viel mehr aber als die Bildung einer Regierung, "dessen Personal offensichtlich geheim gehalten werden muss", bewege den AfD-Mann ein Ereignis dieser Woche, das von der jetzigen Regierung leider nicht verhindert worden sei: die Abwendung der Ukraine von Europa. "Das ist ein Drama, das wir bald bedauern werden. Energiepolitik, Sicherheit und Demografie sind hier drei Stichworte, wie kurzsichtig deutsche Politik geworden ist."