header

Aufgelesen: Mit Gelingensnachweisen in die Zukunft

Wie Pädagogen die Lerndefizite bei Schülern beheben wollen

10.12.2023 - Hand aufs Herz: Wissen Sie noch, wie Ihre innere Berufung mit 15 war? Lag sie mehr bei den trigonometrischen Formeln, der mittelhochdeutschen Lyrik oder doch eher beim Frisieren des Gebrauchtmofas oder dem Styling der Fingernägel? Wie auch immer: Wenn es nach den Vordenkern im deutschen Bildungssystem geht, soll die "innere Berufung" künftig der Maßstab fürs Lernen in der Schule sein. Dort soll es künftig auch keine Klassenräume mehr geben, nur noch "Wohlfühllernorte". Doch das ist noch nicht alles.

"Wir leben im Zeitalter der großen Beschleunigung. Die Transformationsgeschwindigkeit nimmt auf fast allen Feldern exponentiell zu. Deshalb müssen wir neue Wege des Lehrens und des Lernens beschreiten sowie Lernorte schaffen, die begeistern", findet Prof. Dr. Olaf-Axel Burow (70), der an der Uni Kassel allgemeine Erziehungswissenschaften lehrt.

Beschleunigung ist auch im deutschen Bildungswesen festzustellen, leider aber in die falsche Richtung. Denn laut jüngster PISA-Studie ist der Bildungsstand der 15-Jährigen beim Rechnen, Schreiben und in den Naturwissenschaften erneut in Folge gesunken und inzwischen auf einem Mittelplatz im Vergleich aller OECD-Länder angekommen. 

Damit soll nun Schluss sein. Schulen dürften sich nicht weiter zu "demotivierenden Einrichtungen" entwickeln, warnte der Pädagogik-Experte Burow bei einer Veranstaltung des Verbands der Lehrerinnen und Lehrer an Wirtschaftsschulen in Niedersachsen (VLWN) und glänzte mit klaren Forderungen: Abkehr vom "entpersonalisierenden und fabrikmäßigen Fließbandlernen des Industierzeitalters" und Nutzung "digitaler Assistenten", um der "inneren Berufung zu folgen".

Wie das in der Praxis aussehen soll, sagte Burow auch und führte dafür die Alemannenschule in Wutöschingen als "Vorreiterin des Lernens und Lehrens" auf. Dort gibt es keine Klassenzimmer mehr, nur noch "Lernateliers mit personalisierten Arbeitsplätzen", wo altersübergreifend eigenverantwortlich gelernt wird und die Schüler sich das Wissen selbst aneignen sollen. Schulbücher wurden abgeschafft, dafür ein digitales und ständig wachsendes "Materialnetzwerk" geschaffen. Statt Zensuren gibt es "Gelingensnachweise", Lehrkräfte unterrichten im Schnitt nur noch zwölf Stunden und "coachen" die Schüler, die gerade ihrer inneren Berufung nachgehen. Projektarbeit ist passé, dafür gibt es "neigungsgeprägte Clubs". Schüler sind auch nicht mehr Schüler, sondern "Lernpartner", Lehrer sind "Lernbegleiter". 

Dass der Pädagogik-Professor für all dies ein offenes Herz hat, überrascht nicht, schließlich lebt er davon, alle Jahre ein neues Bildungssystem in die Welt zu setzen. Interessant wäre zwischendurch dennoch zu erfahren, warum die Fähigkeiten der 15-Jährigen im Rechnen, Schreiben und in den Naturwissenschaften vor zwanzig oder gar dreißig Jahren, als Unterricht noch nicht der inneren Berufung folgte, deutlich besser waren.

Studien dazu wird es mangels Forschungsmitteln aus den Kultusministerien wohl nicht geben, schließlich will man sich nicht dem Eingeständnis aussetzen, Bildungspolitik sei seit Jahren auf dem Holzweg. Stattdessen werden Burow und Co. mit Geld lieber überschüttet. Denn auch sie profitieren von den Bildungsmilliarden, die Jahr für Jahr ausgeschüttet werden.

Für 2024 soll der Etat des niedersächsischen Kultusministeriums übrigens bei 8 Milliarden Euro liegen. Erneut wird er damit der bisher größte Kultusetat in der Geschichte des Landes und der ausgabenstärkste Haushalt unter den Ministerien. Ob es den Rechen- und Schreibkünsten der Schüler hilft, bleibt abzuwarten.