header

Aufgelesen: Hetzjagd

Warum Schlüttsiel für die Politik wie gerufen kam

Foto: LGheute09.01.2024 - Was hat eine Demonstration gegen die Kürzung von Agrarsubventionen mit Moral zu tun? Richtig, nichts. Das hindert den Bürovorsteher der Lüneburger Oberbürgermeisterin und langjährigen "BILD"-Reporter Sebastian Balmaceda (Grüne) allerdings nicht daran, den demonstrierenden Bauern fehlenden Anstand vorzuwerfen. Damit ist er auch voll auf Linie all derer, die die Begegnung oder besser Nicht-Begegnung demonstrierender Bauern mit Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) in Schlüttsiel zu einem staatsgefährdenden Eklat umzudeuteln versuchen. Dass die Medien da mitspielen, verwundert kaum noch. Doch es gibt Ausnahmen.

Ungewöhnlich schnell waren Politiker fast aller Parteien dabei, den Vorfall am Fähranleger in Schlüttsiel – mehr war es nicht – zu brandmarken. Dort hatten rund hundert demonstrierende Bauern friedlich (!) ein Gespräch mit Wirtschaftsminister Robert Habeck gefordert, der im Begriff war, von seinem Besuch der Hallig Hooge per Fähre in dem kleinen Fährhafen ans Festland zurückzukehren. Den Bauern – keiner von ihnen drohte oder ließ auch nur den Anschein von Gewaltandrohung vermuten – aber stellte sich der sonst gern so bürgernah auftretende Minister nicht, nur zwei Demonstranten wollte er zu sich auf die Fähre lassen, was diese der vermittelnd eingesetzten Polizei nachvollziehbar ablehnten – schließlich wollten alle von Habeck erfahren, warum er sich mit den angekündigten Maßnahmen gegen sie gestellt hatte. Basis pur eben.

Weil die Bauern auf seine Bedingungen nicht eingingen, zog Habeck, der bis dahin nicht ein einziges Mal in Erscheinung getreten war, es vor, sich zurückzuziehen, und ließ die Fähre wieder ablegen. Erst als die Fähre bereits abgelegt hatte, drangen einige Demonstranten auf den Fähranleger, wobei die Polizei zu verhindern suchte. Habeck aber tuckerte bereits unbehelligt zurück zur Hallig Hooge, um erst gegen Mitternacht, als die Bauern wieder zu Hause waren, in Schlüttsiel doch noch von Bord zu gehen. Nachzusehen ist all dies in aufschlussreichen Videosequenzen, die der frühere "BILD"-Chefredakteur Julian Reichelt – unser Lüneburger Bürovorsteher mag ihm vielleicht einmal begegnet sein – in seinem Format "Achtung Reichelt" zur Verfügung stellt. Es lohnt, diesen Beitrag in Gänze anzuschauen. 

◼︎ Feuchte Träume der Regierung

Die Reaktion aus dem politischen Berlin auf den von allen Seiten als "ungeheuerlich" gebrandmarkten Vorgang kam prompt. Den Vogel dabei schoss Habecks Parteikollege Cem Özdemir ab, der sich darin verstieg, den demonstrierenden Bauern "feuchte Träume" mit "Umsturzversuchen" zu unterstellen. Und SPD-Innenministerin Nancy Faeser zieht gar eine direkte Linie vom Fähranleger in Schlüttsiel zum Mordanschlag auf Walter Lübcke; kein Scherz.

Damit aber war die Messlatte gesetzt, an der sich alle Übrigen, allem voran die Medien, fortan zu orientieren hatten. Denn nur wer als Erster im politischen Tagesgeschäft die Losung vorgibt, hat auch die Chance, dass das von ihm gesetzte "Narrativ" auch den Tenor in den Hauptmedien der folgenden Tage bestimmt.

Und so kam es dann auch. Nahezu jede Partei und jede Fraktion, und natürlich auch Bundespräsident Steinmeier (SPD), sahen die Chance, den demonstrierenden Bauern, die keinem ein Haar gekrümmt hatten, rechtsextremistische Absichten zu unterstellen und damit auch gleich den gesamten Protest der Bauern zu delegitimieren. Sie bedienten sich dabei eines Verfahrens, das jeder Jura-Student im dritten Semester lernt: die Glaubwürdigkeit des Gegners infragezustellen, egal, ob die Behauptungen zutreffend sind, frei nach der Devise: irgendwas bleibt schon haften. Schließlich galt es, die Kritik an der erkennbar untauglichen Politik der Ampel-Regierung in Berlin in eine Kritik an vermeintlich rechtsextremistischen Tendenzen innerhalb der Bauernschaft umzumünzen.

◼︎ Nicht alle Medien machen mit 

Die Zeitungs-, Höfunk- und Online-Kommentatoren nahmen all das gewohnt dankbar auf, wie in den täglichen Presseschauen des Deutschlandfunks nachzuhören und nachzulesen ist. Immerhin: Ein Medium sticht aus der allgemeinen Empörungs-Euphorie heraus, wie ebenfalls im Deutschlandfunk nachzulesen ist. So wird in der "Schwäbischen Zeitung" im Hinblick auf den Vorfall in Schlüttsiel für mehr Gelassenheit geworben. Dort heißt es: "Natürlich, schön war das nicht, was Robert Habeck da am Fähranleger widerfahren ist. Aber es wurde niemandem ein Haar gekrümmt, es flog kein Ei, kein Farbbeutel und kein Stein, niemand wurde festgenommen und auch die Polizei wollte ausdrücklich nicht von Gewalt sprechen. Die Ampel-Mannschaft stürzte sich mit größter Inbrunst in die – natürlich 'schärfste' – Verurteilung des Vorfalls, mit dem sicherlich nicht unwillkommenen Nebeneffekt, dass die eigentlichen Anliegen der Bauern und ihrer Mitstreiter erst einmal in den Hintergrund gerieten. Dabei müssten diese Politprofis aus eigener Demonstrationserfahrung natürlich eigentlich ganz genau wissen, dass jeder Protest auch immer eine gewisse Anziehungskraft auf ein unerfreuliches und zumeist auch unerwünschtes Klientel ausübt. Den Fokus aber massiv auf diese Minderheit der Trittbrettfahrer zu lenken, nimmt dem eigentlichen Protest seine Legitimität. Und das verhärtet die Fronten unnötig." 

◼︎ Moralisch verbogen

Was all das mit Sebastian Balmaceda zu tun hat? Nichts, außer, dass er den demonstrierenden Bauern vor dem Hintergrund der Feuerkatastrophe im Uelzener Klinikum per Facebook an den Kopf wirft: "Fünf Tote. Ausnahmezustand in allen Kliniken. Ärzte und Pfleger am Limit. Wenn die Demonstraten am Montag einen Funken Anstand haben, dann nehmen sie Rücksicht." Das Perfide dahinter: Dies ist das übliche Vorgehen derjenigen, die ihr moralisch verbogenes Schwert über all jenen niedersausen lassen, von denen sie sicher sein können, dass sie zuvor bereits von anderen gerichtet wurden.