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Die unwillkommene Gemeinde

Vor 30 Jahren kam das Amt Neuhaus nach Lüneburg – Ein kritischer Rückblick

West und Ost verbunden – das jährliche Fest am Tag der deutschen Einheit übertüncht bisweilen die Probleme, die sich seit Jahren im Landkreis Lüneburg aufgestaut haben. Foto: privatLüneburg/Neuhaus, 01.07.2023 - Die Euphorie des Wendejahres 1989, als beide Teile des getrennten Deutschlands sich ausgelassen dem Wiedervereinigungstaumel hingaben, war schon ein wenig verflogen, da wurde eine kleine Region Ostdeutschlands per Beschluss ein Teil Westdeutschlands: Das rechtselbisch gelegene Amt Neuhaus gleich gegenüber dem Landkreis Lüneburg wurde "rückgegliedert". Das war gestern auf den Tag genau 30 Jahre her. Doch was ist daraus geworden?

"Kommt die D-Mark nicht zu uns, kommen wir zur D-Mark." Trotzig und äußerst selbstbewusst erkannten die kurz nach 1989 immer noch real existierenden DDR-Bürger, was die Stunde geschlagen hatte. Der Westen, die vierzig Jahre währende Verheißung von Wohlstand, Luxus und uneingeschränkten Reisemöglichkeiten, war in greifbare Nähe gerückt.

◼︎ Zurückweichen vor der Macht der Masse

Ob sie um die Macht ihrer in Massen anströmenden Ost-Bürger, die lieber gleich als morgen ins westdeutsche Schlaraffenland "rübermachen" wollten, wussten oder nicht und damit die West-Politik in arge Nöte bringen konnten, werden wohl Historiker beantworten müssen. Das Ergebnis aber war: Wiedervereinigungskanzler Helmut Kohl ahnte, dass er die drohende Abstimmung mit den Füßen nur mit einem Trick aufhalten konnte: dem Wechselkurs von Ost- zu D-Mark. 1:1 betrug dieser aufgrund politischer Entscheidung, begrenzt bis zu einem Betrag von 2.000 Ost-Mark, danach 1:2 für höhere Beträge. Dies reichte bekanntlich, um die Ostbürger im Osten zu halten und das befürchtete Leerlaufen des Ostens und eine Überflutung des Westens zu verhindern. Dass die Wechselkurs-Beglückten dann im Schnelldurchgang erfahren mussten, dass auch Mieten und Preise im gleichen Maße angepasst wurden, ist ein anderes Kapitel. 

Im Amt Neuhaus war dies zu der Zeit nicht anders. Sie aber hatten noch einen Trumpf im Ärmel, den sie auch zielstrebig ausspielten: ihre vor 1945 vorhandene Zugehörigkeit zum Landkreis Lüneburg. Neuhaus hatte ohnehin eine lange West-Bindung: Ende des 17. Jahrhunderts dem Königshaus  Hannover zugeschlagen, konnte sich das Gebiet auch nach der territorialen Neuaufteilung Deutschlands als Folge des Wiener Kongresses nach dem Ende der napoleonischen Eroberungen in Mitteleuropa im Westen halten. 1932 wurde das Amt, nachdem es 1885 von der preußischen Staatsregierung dem Kreis Bleckede zugeordnet worden war, in den Landkreis Lüneburg eingegliedert. 1945 war dann Schluss, die Elbe bildete die vorerst unüberwindbare Grenze zwischen der nachfolgenden DDR und dem freien Westen.

 ◼︎ Entscheidung ohne die Lüneburger

Die erneute Westanbindung begann schließlich im Mai 1990. Damals fanden Gemeinderatswahlen in den damals noch acht selbstständigen Gemeinden Dellien, Haar, Kaarßen, Neuhaus, Stapel, Sumte und Tripkau statt, aus deren Ergebnis die Bildung des Amtes Neuhaus im März 1992 hervorging. Deren Gemeinderäte trafen kurz darauf eine wegweisende Entscheidung: den Wechsel vom Landkreis Hagenow in Mecklenburg-Vorpommern zum Land Niedersachsen und damit die Eingliederung in den Landkreis Lüneburg. Bemerkenswert: Dieser Wechsel fand einseitig auf der Ostseite statt, die Niedersachsen, geschweige denn die Bürger der Landkreises Lüneburg, wurden nicht gefragt.

Darüber wird heute nicht mehr gesprochen, auch nicht über die Bürgerbefragung vom 7. Juni 2009. Dabei ging es um den Zusammenschluss der Gemeinde Amt Neuhaus mit der Stadt Bleckede und den Gemeinden der Samtgemeinde Dahlenburg. Während die Bürger im Amt Neuhaus und in Dahlenburg der Fusion jeweils zustimmten, wurde sie von den Bleckedern mit deutlicher Mehrheit abgelehnt.

◼︎ Keinen Bock auf Schulden

Seitens der Bleckeder Stadtverwaltung unter ihrem damaligen Bürgermeister Jens Böther wurde dies als "Unwissen der Bürger" dargestellt und kurzerhand eine zweite Befragung durchgeführt. Nur: Dieses Mal war die Ablehnung der Bleckeder noch deutlicher. Aus gutem Grund: Denn die Finanzsituation sowohl im Amt Neuhaus als auch in der Samtgemeinde Dahlenburg war desolat. Bleckede hingegen hatte vergleichsweise wenig Schulden.

Von all dem ist heute nichts mehr zu hören. Stattdessen wird – um den damaligen Bürgermeister von Bleckede und heutigen Landrat des Landkreises Lüneburg, Jens Böther, zu zitieren – die "Einmaligkeit" der Rückgliederung in den Landkreis Lüneburg gefeiert. Heute wird der einseitige Wiederzusammenkommens-Akt lieber auf eine andere Baustelle verlagert: die umstrittene Elbbrücke zwischen Darchau und Neu Darchau. Sie soll die Einheit herstellen, die schon seit 30 Jahren nicht so recht funktionieren will.

Ohne die geplante Brücke wird die Abkopplung vom Amt Neuhaus dessen Hinwendung zum (ostdeutschen) Landkreis Ludwigslust-Parchim in Mecklenburg-Vorpommern wohl noch weiter forcieren, wie manch Politiker befürchtet. Bleibt die Frage: Wäre das wirklich ein Problem? Das Amt Neuhaus ist schon längst weit stärker an den Nachbar-Landkreis im Osten angegliedert als an den Westen. Eine Brücke würde zwar die Fahrzeiten von Schülern und Arbeitnehmern verringern, die derzeit noch im "Westen" verankert und aktuell auf miserable Fährverbindungen angewiesen sind. Doch infrastrukturell ist die Gemeinde eigentlich noch immer dort, wo sie vor 30 Jahren noch war. Nicht zuletzt wegen der Elbe als Grenzfluss zwischen Ost und West.