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Auschwitz-Prozess: Oskar Gröning zu vier Jahren Haft verurteilt

Gericht sieht Beihilfe des früheren SS-Angehörigen zum Mord in 300.000 Fällen als erwiesen an – Stimmen aus Lüneburg

Mit dem Prozess gegen Oskar Gröning endete vermutlich in Deutschland das letzte große Verfahren gegen NS-Verbrecher. Foto: LGheuteLüneburg, 16.07.2015 - Die 4. Große Strafkammer am Landgericht Lüneburg hat Oskar Gröning gestern wegen Beihilfe zum Mord in 300.000 rechtlich zusammentreffenden Fällen schuldig gesprochen und ihn zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Wie das Gericht mitteilt, habe die Kammer die Beihilfehandlung zur heimtückischen und grausamen Tötung in der Gesamtheit der Tätigkeit des Angeklagten im Rahmen der Ungarnaktion in Auschwitz gesehen. Bei der Strafzumessung habe die Kammer insbesondere auch das Alter des Angeklagten berücksichtigt und dass er eine Chance haben müsse, nach Verbüßung einer Freiheitsstrafe noch einen Teil seines Lebens in Freiheit zu verbringen.

Eine Milderung wegen einer von dem Angeklagten geleisteten Aufklärungshilfe hat die Kammer nicht angenommen, weil der Angeklagte durch seine früheren Angaben zu anderen SS-Angehörigen in Auschwitz nicht wesentlich zur Aufdeckung von Straftaten beigetragen hat. Eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung, nach der ein Teil der Strafe - wie von der Staatsanwaltschaft beantragt - als vollstreckt zu erklären wäre, hat die Kammer für den Angeklagten nicht festgestellt.

Die Entscheidung, ob der Angeklagte - nach Rechtskraft des Urteils - die Haft antreten muss, obliegt der Staatsanwaltschaft. Ob der Angeklagte Berufung gegen das Urteil einlegen wird, wurde bis jetzt noch nicht entschieden.

Die Staatsanwaltschaft hatte Gröning vorgeworfen, zwischen Mai und Juli 1944 als Freiwilliger der Waffen-SS im Bereich der Gefangeneneigentumsverwaltung des Konzentrationslagers Auschwitz geholfen zu haben, das auf den Bahnrampen im Lagerbereich Birkenau zurückgelassene Gepäck neu eintreffender Häftlinge wegzuschaffen. Damit sollten die Spuren der Massentötung für nachfolgende Häftlinge verwischt werden. Vor allem aber sei es Grönings Aufgabe gewesen, die aus dem Gepäck entnommenen Banknoten zu zählen und an das Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt der SS in Berlin weiterzuleiten.

Gröning sei bewusst gewesen, dass die im Rahmen der Selektion als nicht arbeitsfähig eingestuften überwiegend jüdischen Häftlinge unmittelbar nach ihrer Ankunft in eigens dafür errichteten Gaskammern ermordet wurden. Durch seine Tätigkeit habe er dem NS-Regime wirtschaftliche Vorteile verschafft und das systematische Tötungsgeschehen unterstützt.

Aus Rechts- und Beweisgründen wurde die Anklage auf den Zeitraum der sogenannten "Ungarn-Aktion" beschränkt. Seit der Besetzung des ungarischen Staatsgebietes am 19. März 1944 waren die dort lebenden Bürger jüdischer Herkunft Gesetzen mit antisemitischer Zielrichtung unterworfen. Sie wurden in Ghettos untergebracht und später in die "Endlösung der Judenfrage" einbezogen.

Zwischen dem 16. Mai und dem 11. Juli 1944 trafen im Lager Auschwitz-Birkenau mindestens 137 Eisenbahntransporte mit insgesamt etwa 425.000 Personen aus Ungarn ein, von denen mindestens 300.000 den Tod in Gaskammern fanden.

Frühere Ermittlungen gegen Gröning wegen des Verdachts der Beteiligung an NS-Verbrechen hatte die Staatsanwaltschaft Frankfurt am 6. März 1985 mangels Beweises eingestellt. Das nunmehr von der Staatsanwaltschaft Hannover angeklagte Verfahren gegen Gröning, das jetzt mit seiner Verurteilung endete, beruhte auf Vorermittlungen der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg. Jene hatten am 19. Februar 2014 zu bundesweiten Durchsuchungen von Wohnungen ehemaliger SS-Angehöriger geführt. Über den Hintergrund der Ermittlungen hatte zuletzt das Magazin "Der Spiegel" in seiner Ausgabe vom 28. August 2014 berichtet.

Oberbürgermeister Ulrich Mädge: "Deutsche gehen veranzwortungsbewusst mit ihrer Geschichte um"

"Am Ende kann es bei dem unermesslichen Leid, das Auschwitz-Opfer und Angehörige erlitten haben, keine wirkliche Gerechtigkeit und keine Wiedergutmachung geben", resümiert Lüneburgs Oberbürgermeister Ulrich Mädge den Ausgang des Gröning-Prozesses am Landgericht Lüneburg, "mit dem Prozessablauf hier in Lüneburg sind wir als Hansestadt aber zufrieden."

Eine Bewertung des Strafmaßes stehe ihm als Oberbürgermeister nicht zu, Mädge hob aber auf die hohe Bedeutung des Urteils und des Prozesses ab, der unter internationaler Beobachtung stand: "In Lüneburg fand bereits der erste Kriegsverbrecherprozess nach dem zweiten Weltkrieg statt. Beim Gröning-Prozess handelte es sich vermutlich um eines der letzten großen, wenn nicht das letzte große NS-Verfahren mit vielen in- und ausländischen Journalisten hier in Lüneburg. Wir bedanken uns als Hansestadt beim Landgerichtspräsidenten für den reibungslosen Ablauf und den würdigen Rahmen des Prozesses. Außerdem können wir uns glücklich schätzen, dass das Verfahren unter dem Vorsitz eines besonnenen Richters stand, der mit viel Einfühlungsvermögen die Zeugen befragt hat." Den Zeugen und Angehörigen dankte Mädge, dass sie bereit gewesen seien, noch einmal ihr unfassbares Leid zu schildern und damit nachwachsenden Generationen einen lebhaften Einblick in das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte gewährt haben.

"Wichtig war aber vor allem, dass der Prozess gezeigt hat, wir Deutschen gehen verantwortungsbewusst mit unserer Geschichte um", so Mädge. "Gröning hat dazu beigetragen, dass die unmenschliche NS-Maschinerie überhaupt bestehen konnte. Der Prozess hat ergeben, dass Grönings Tätigkeit den Massenmord in Auschwitz gefördert hat. Unsere Justiz wird weiter wach bleiben und dafür sorgen, dass NS-Verbrechen nicht in Vergessenheit geraten."

 Hiltrud Lotze: "Keinen Schlusstrich ziehen"

Zu dem Urteil erklärt die Lüneburger Bundestagsabgeordnete und Berichterstatterin der SPD-Bundestagsfraktion für das Thema "Gedenken und Erinnern“, Hiltrud Lotze: "Das Terrorregime der Nazis ist seit 70 Jahren Geschichte. Doch die Verbrechen, die damals verübt wurden, haben an Schrecken nicht verloren. Das haben die Schilderungen der Zeugen vor dem Landgericht Lüneburg eindrücklich deutlich gemacht. 

Das heutige Urteil hat für diese Menschen eine große symbolische Bedeutung. Es zeigt, dass die Verbrechen der Nazis nicht vergessen sind und dass die daran Beteiligten nicht ungestraft davonkommen. Unter den Holocaust können und wollen wir auch 70 Jahre danach keinen Schlussstrich ziehen.Dass das Urteil so spät erfolgte, liegt auch an den Versäumnissen der deutschen Justiz. Umso wichtiger ist, dass der Prozess vor dem Landgericht Lüneburg nun stattgefunden hat und der rechtlichen Aufarbeitung Genüge getan wurde.“