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"Es hätten mindestens 5000 sein können"

LGheute im Gespräch mit Ulrich Mädge, Oberbürgermeister von Lüneburg

Oberbürgermeister Ulrich Mädge sieht es als humanitäre Verantwortung, deutlich mehr Flüchtlinge aus Griechenland als die jetzt beschlossene Zahl von 1500 Menschen in Deutschland aufzunehmen. Foto: Stadt Lüneburg Lüneburg, 01.10.2020 - Als das Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos vor wenigen Wochen in Flammen stand, wurden schnell Stimmen laut, die Betroffenen nach Deutschland zu holen. Die Bundesregierung konnte sich letztlich für die Aufnahme von 1500 Menschen durchringen – "zu wenig", wie Lüneburgs Oberbürgermeister Ulrich Mädge befand. Lüneburg sei bereit, mehr als die über Bund und Land aus Moria zugewiesenen Flüchtlinge aufzunehmen.

Im Gespräch mit LGheute erläutert Mädge seine Position.

Herr Mädge, zu der Bereitschaft der Bundesregierung, 1500 Flüchtlinge aus Moria aufzunehmen, sagten Sie, dies sei nicht genug. Wie viele sind denn genug?

Mädge: Das ist schwierig. Aber auf die Situation in Moria und die damit verbundene emotionale Diskussion in der Gesellschaft muss Politik eine Antwort haben. 2015 haben wir eine Million Flüchtlinge aufgenommen. Daher hätte ich es begrüßt, wenn die Bundesregierung sich jetzt für drei- bis fünftausend Menschen entschieden hätte. Wenn man die 1500 Flüchtlinge – übrigens sind das anerkannte Flüchtlinge nicht nur aus Moria – auf die Republik verteilt, bekommen wir in Lüneburg zwei. Aus humanitären Gründen hätten es mindestens 5000 Menschen sein können.

Da könnte man aber auch sagen, das ist noch nicht genug.

Ja, was ist genug? Wir sehen ja die Menschen, die hier um das Rathaus ziehen und sagen, wir haben Platz. Bisher hat sich aber bei mir noch niemand gemeldet, der sagt, ich nehme zwei auf und ich übernehme die Kosten. Die Grünen sagen auch, wir haben Platz, haben dann aber offenbar nur Container als Unterbringung vor Augen, nicht Wohnungen - wenn wir die bauen wollen, wissen sie viele Gründe dagegen zu sein. Das gehört aber dazu.
Wichtig ist, dass wir das Aufnahme-Problem lösen. EU und Deutschland wissen seit fünf Jahren um dieses überfüllte Lager, das ist menschenverachtend. Insofern habe ich manchmal auch meinen moralischen Zweifel an denen, die da im Bund reden. Denn es hätte vergleichsweise wenige Millionen Euro gebraucht, um die Situation in Griechenland zu verbessern. Erschwerend kommt aber hinzu, dass die Griechen sich schwer damit tun die Hilfen anzunehmen. Und wir Deutschen haben ja auch eine besondere Beziehung zu Griechenland, wenn man 80 Jahre zurückdenkt. Die Situation erfordert deshalb ein Maßnahmenpaket und Fingerspitzengefühl aller Akteure. Ansonsten wird die Folge sein, dass die 15.000 Flüchtlinge, die in Moria und auf den anderen Inseln untergebracht sind, irgendwann illegal versuchen einzureisen.

Aber was wäre damit gewonnen? Das Lager in Griechenland könnte sich erneut füllen, die Brandstiftung könnte Schule machen – würden Sie dann wieder Flüchtlinge aufnehmen wollen?

Natürlich ist das die Gefahr, und die ist real. Das sehe ich auch so. Dann muss man aber wieder neu entscheiden, was zu tun ist. So wie jetzt bei den Flüchtlingen, die auf See gerettet wurden, von Bord springen und an Land schwimmen. Das ist eine Drucksituation. Leider sind sich manche Parteien nicht zu schade, das zum Thema von Kampagnen zu machen.
Letztlich muss von Fall zu Fall entschieden werden. Aber wenn in dieser aufgeheizten Situation vor allem von den Parteien der Mitte gesagt wird, wir nehmen nur 1500 auf, dann ist das kein Signal. Darum geht es mir, wohl wissend, dass wir wieder in diese Situation kommen können. Deshalb muss parallel dringend die Situation der Unterbringung in Griechenland geklärt werden.

Kritiker Ihres Ansatzes, Menschen in Not nach Deutschland zu holen, befürchten aber diesen Sog-Effekt.

Das wird vielleicht auch so kommen, auch durch die Bilder, die dann um die Welt gehen. Ich kann Menschen verstehen, die sagen: Wieso sollen Menschen aus Afghanistan aufgenommen werden und warum in Deutschland? Aber wenn wir schon sagen, wir wollen Kindern und Familien helfen – und das war ja die Grundsatzentscheidung der Bundesregierung und wird im Land getragen –, dann müssen es mehr als 1500 sein.

Deutschland wurde 2015 von EU-Mitgliedsstaaten vorgeworfen, mit der Öffnung der Grenzen und der damit verbundenen unkontrollierten Zuwanderung gegen EU-Recht verstoßen zu haben. Jetzt geht Deutschland erneut unabgestimmt voran. Laufen wir da nicht Gefahr, uns in der EU zu isolieren, zumal die Bereitschaft selbst von Ländern wie Frankreich oder Schweden, Flüchtlinge aufzunehmen, gegen Null geht?

Wenn man humanitär handelt, ist man immer in dieser Gefahr, wenn andere nicht mitgehen wie Ungarn, Österreich, Tschechien oder auch Estland. Aber wir haben eine besondere humanitäre Verantwortung. Schweden etwa hat seine politische Richtung geändert und schiebt abgelehnte Flüchtlinge jetzt konsequent ab. Nur: Dann hätte man den Vorschlag von Verteidigungsministerin Annegret Kamp-Karrenbauer für eine entmilitarisierte Zone entlang der türkisch-syrischen Grenze aufnehmen müssen, um dort die Flüchtlinge unterzubringen. Diese Entscheidungen wurden aus politischen Gründen aber nicht getroffen.
Nun sind wir in dieser Situation. Und leider ist beim EU-Gipfel außer „weißer Salbe“ ja auch nichts herausgekommen. Aber wir haben eine Verantwortung. Die habe ich als Politiker, aber auch als Mensch und Christ. In diesem Spannungsfeld müssen Entscheidungen getroffen werden. Keine ist richtig, jede ist falsch. Aber keine Entscheidung zu treffen, ist genauso falsch.

Wie viele Flüchtlinge verträgt denn Lüneburg?

Auch das ist eine Frage, die ich nicht beantworten kann. Von unseren Kapazitäten für die Unterbringung her haben wir noch Plätze frei, und wenn nicht, müssten wir mehr Container aufstellen. Das Entscheidende aber ist: Wie viele Flüchtlinge kann Lüneburg integrieren? Ich wohne seit über 30 Jahren in Kaltenmoor und weiß, worüber wir reden. Integration braucht Zeit und Geld. Beim Geld, das wir für Unterkünfte und Bildung brauchen, lassen uns Bund und Land aber im Stich. Zugleich gibt es in Lüneburg eine starke politische Gruppierung, die sagt, wir wollen hier kein Bauland mehr, keinen Wohnungsbau, keinen Zuzug. Die aber dann aber mit vorm Rathaus stehen und sagen, wir haben Platz.

Sie meinen die Grünen?

Ja, zum Beispiel. Ansonsten glaube ich, dass wir den Anteil an Migranten, den wir jetzt haben, als Mittelstadt auch gut integrieren können. Man muss ja immer Folgendes sehen: Wir haben die Menschen, die über die Flüchtlingsquote zugewiesen werden, wir haben den Familiennachzug und wir haben auch die bereits Anerkannten, die ihren Wohnsitz frei wählen können und nach Lüneburg ziehen. Allein die letzte Gruppe macht in der Hansestadt 1000 bis 1500 Menschen aus. Für alle ist es nicht damit getan herzukommen. Die Menschen brauchen Wohnungen, Arbeitsplätze und Plätze in Kindergärten und Schulen für ihre Kinder. All das geht nicht von allein. Wer sagt, wir haben Platz, muss auch die daraus folgenden Entscheidungen mitdenken und mittragen. Das fehlt mir manchmal, auch im Rat.

Sollte man nicht aber lieber dort mehr tun, wo die Flüchtlinge herkommen? Afrika zum Beispiel. Wir gehören zu den größten Fleischexporteuren der Welt. Abgesehen von den Problemen der Tierhaltung und den Umweltproblemen, die hier bei uns damit verbunden sind, machen wir woanders die heimischen Märkte kaputt und wundern uns, dass die Menschen ihr Land verlassen.

Ja, da müssen wir deutlich mehr tun. Da unterstützte ich auch Entwicklungsminister Gerd Müller ausdrücklich. Aber wir haben hier keine sozialistische Steuerung der Wirtschaft, sondern Demokratie und Gesellschaft und Interessenabwägung – verbunden mit der Frage, wer sich letztlich beim Gesetzgeber mit seinen Interessen durchsetzt. Auch haben wir bei diesem Thema immer auf die EU gesetzt, aber das ist leider noch schwieriger geworden.