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Aufgelesen: Die ignorierte Pandemie

Foto: LGheute15.04.2020 - Künftig sollten wir alle Schutzmasken tragen, so hat es Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrer heutigen Pressekonferenz empfohlen. Das erstaunt. Denn die Kanzlerin ist ansonsten wenig zimperlich, der Gesellschaft vorzuschreiben, was sie zu tun und zu lassen hat. Alles begründet mit dem Risiko, unser Gesundheitssystem könnte der Corona-Pandemie nicht gewachsen sein. Das mag stimmen. Warum aber spricht sie plötzlich nur eine Empfehlung aus und ordnet nicht einfach an, dass Masken von jedermann zu tragen sind, wenn diese denn so wichtig sind? Die Erklärung dafür liegt sieben Jahre zurück.  

Tote: sehr wahrscheinlich. Verletzte und Erkrankte: sehr wahrscheinlich. Auswirkungen auf die Volkswirtschaft: sehr wahrscheinlich. Auswirkungen auf die öffentliche Ordnung und Sicherheit: wahrscheinlich. Politische Auswirkungen: sehr wahrscheinlich. Psychologische Auswirkungen: sehr wahrscheinlich -  so lautet die schematisch dargestellte Kurzform eines Teils einer Risikoanalyse, die den Titel "Bericht zur Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz 2012" trägt und dem Deutschen Bundestag mit dem Hinweis "Unterrichtung durch die Bundesregierung" am 21.12.2012 zugeleitet wurde. Maßgeblich an der Risikoanalyse beteiligt: der Lenkungsausschuss "Risikoanalyse Bund", in dem "alle relevanten Ressorts (der Bundesregierung; Anm.d.Red.) vertreten sind und der durch das Bundesministerium des Innern (BMI) koordiniert wird", wie es in der Einleitung zu dem Dokument auf Seite 3 heißt.

Die Verfasser der Analyse lassen keinen Zweifel daran, welche fatalen Folgen eine Virus-Pandemie für die Bundesrepublik Deutschland haben könnte. In ihrer Studie haben sie – soweit möglich – alle ableitbaren Szenarien durchgespielt, um daraus Handlungsoptionen und -anweisungen für die Bundesregierung und ihre nachgeordneten Behörden abzuleiten.

Und erstaunlich präzise steht bereits dort beschrieben, was Deutschland sieben Jahre später mit der Corona-Krise erfahren muss: "Mittel zur Eindämmung sind beispielsweise Schulschließungen und Absagen von Großveranstaltungen. Neben diesen Maßnahmen, die nach dem Infektionsschutzgesetz angeordnet werden können, gibt es weitere Empfehlungen, die zum persönlichen Schutz, z. B. bei beruflich exponierten Personen, beitragen wie die Einhaltung von Hygieneempfehlungen. Die antiepidemischen Maßnahmen beginnen, nachdem zehn Patienten in Deutschland an der Infektion verstorben sind."

Nicht nur, dass detailliert Szenarien über mögliche Infizierungen, Todesfälle und Genesungen durchgespielt werden, es gibt auch eindeutige Hinweise auf Probleme bei der Betreuung und Versorgung von Erkrankten. Auf Seite 73 der Analyse heißt es: "Die personellen und materiellen Kapazitäten reichen nicht aus, um die gewohnte Versorgung aufrecht zu erhalten."

Doch es kommt noch deutlicher: "Arzneimittel, Medizinprodukte, persönliche Schutzausrüstungen und Desinfektionsmittel werden verstärkt nachgefragt. Da Krankenhäuser, Arztpraxen und Behörden in der Regel auf schnelle Nachlieferung angewiesen sind, die Industrie die Nachfrage jedoch nicht mehr vollständig bedienen kann, entstehen Engpässe" – ein Zustand, den wir heute haben.

Bundeskanzlerin Angela Merkel wird um die lebensbedrohenden Nöte in diesem Land, für die sie mitverantwortlich ist, weil ihre Regierung vorbeugende Maßnahmen trotz klarer Hinweise unterlassen hat, wissen. Dass sie eine Schutzmaskenpflicht daher nur "empfehlen" mag und nicht verordnet, ist erkennbar dem Umstand geschuldet, dass es in diesem Land nicht genug dieser Schutzausrüstungen gibt. Denn bei einer Anordnung hätte die Bundesregierung im Vorfeld dafür Sorge tragen müssen, dass die Bevölkerung dieser Anordnung auch Folge leisten kann. Doch die Bundesregierung hatte die Risikoanalyse lieber ignoriert und von einer Vorsorge abgesehen.

Merkels "Empfehlung" kann daher kaum als Ausdruck ihrer Besorgnis um ihre Landsleute gesehen werden – auch wenn die gängigen Medien lieber einem regierungsamtlichen Duktus anhängen. Sie spiegelt vielmehr ihr Wissen um die fatalen Versäumnisse der Bundesregierung im Vorfeld der durch eine Analyse aufgezeigten katastrophalen Folgen einer Virus-Pandemie.    

 

Die nachfolgende Grafik verdeutlicht das Schadensausmaß einer möglichen Pandemie in Deutschland. Die Grafik stammt aus der Drucksache 17/12051 des Deutschen Bundestags "Bericht zur Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz 2012", abgebildet auf Seite 56.

Grafik zum Schadensausmaß einer möglichen Pandemie. Quelle: Deutscher Bundestag, Drucksache 17/12051, S. 56