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Aufgelesen: Augen zu und raus

Erst allmählich dringt an die Öffentlichkeit, was in Afghanistan alles schief gelaufen ist

Foto: LGheute18.08.2021 - Nichts gewusst, nichts geahnt, völlig überrascht – so lauten die Standard-Antworten, die in diesen Tagen von verantwortlichen Spitzenpolitikern zur desaströsen Situation in Afghanistan abgegeben werden. Doch stimmt das wirklich? Oder dienen auch sie nur dazu, Fehlentscheidungen auch der Bundesregierung beim Einsatz Deutschlands am Hindukusch zu vertuschen? Dass die Politik längst hätte wissen müssen, was in Afghanistan alles schief läuft, belegt ein Beitrag aus der NZZ.

"Der Westen unterstützte jahrelang eine Regierung von Kleptokraten", schreibt Andreas Babst in seinem Beitrag in der "Neuen Zürcher Zeitung" (NZZ), der den Titel "Zwanzig Jahre hat der Westen an Afghanistan gebaut. Innert Tagen bricht alles zusammen. Wie konnte das passieren?".

Babst, der als NZZ-Korrespondent seit Jahren aus Delhi über das Geschehen in der Region berichtet, bringt damit auf den Punkt, was aus seiner Sicht die Wurzel allen Übels ist. Angefangen habe es mit der vom Westen betriebenen Einrichtung einer Übergangsregierung. Das Ziel: Afghanistan nach dessen Besetzung durch die USA und deren Verbündete, darunter Deutschland, zu einer islamischen Republik mit demokratischen Spielregeln zu machen. 

Viele Länder hätten sich am Aufbau des Landes engagiert, seien mit vollen Geldkoffern gekommen. Fast jedes Projekt sei finanziert, aber kaum kontrolliert worden. "Und damit begann die Korruption", schreibt Babst. Denn für die Übergangsregierung waren Männer vorgesehen, die als sogenannte Warlords und Stammesvertreter gegen die Taliban gekämpft hatten "und nun ein Stück vom Kuchen wollten". Einer der maßgeblichen Treiber damals übrigens Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD). Außenminister: Joschka Fischer (Grüne).

◼︎ Viele Milliarden Dollar wurden außer Landes geschafft

Wer aber in die Regierung gewählt wurde, schuldete jenen, die ihn gewählt hatten, einen Gefallen. Bast: "Er zeigte sich erkenntlich mit Geld oder Posten. Die Korruption in Afghanistan war am Ende so durchdringend, dass die Menschen keine Urkunde beglaubigen lassen, keine Identitätskarte erstellen lassen konnten, ohne Bestechungsgeld zu zahlen."

Hinzu kommt, dass von den Milliarden Dollar, die an Entwicklungshilfe nach Afghanistan geflossen seien, schätzungsweise 4,5 Milliarden Dollar wieder herausgeschafft wurden – jedes Jahr, wie Babst den obersten Ermittler der Special Inspector General for Afghanistan Reconstruction (Sigar), John F. Sopko, zitiert. Die Amerikaner hatten diese Aufsichtsbehörde 2008 installiert, um zu überwachen, wohin das Geld der amerikanischen Steuerzahler fließt. 

Dass von den außer Landes geschafften Dollar-Milliarden viele auf den Privatkonten hoher Regierungsmitarbeiter gelandet sein dürften, wird deutlich durch den Hinweis des Sigar-Chefs, wonach die afghanische Regierung sich geweigert habe, sogenannte Geldzählmaschinen in Betrieb zu nehmen. Diese hatten die Amerikaner – vermutlich aus begündetem Verdacht – am Flughafen Kabul installiert. Doch auch mit diesen Maschinen wäre das Außer-Landes-bringen der Dollars wohl kein Problem gewesen: "Wer von der afghanischen Regierung zum VIP erklärt wurde, durfte am Flughafen gar nicht erst kontrolliert werden." 

◼︎ Taliban sind Nutznießer der korrupten Verhältnisse

Dieses System aus Vetternwirtschaft und Korruption habe den Taliban letztlich in die Hände gespielt. Sie waren damals nicht an der Regierungsbildung beteiligt gewesen, laut Babst "einer der größten Fehler". So wurden die Feinde von 2001, die eine "einfache, radikale Justiz versprachen", für all jene Afghanen wieder zu einer Alternative, die bereits genug von dem Staat hatten, der "mehr Fassade denn Institution" war. 

Ähnliche Töne waren heute auch von Marc Thörner im "Deutschlandfunk" zu hören. In den Informationen am Mittag sagte der Publizist und Afghanistan-Kenner zum Thema Warlords: Nach Auffassung vieler aus der Bevölkerung seien dies Leute, "die nur rausholen wollen, die uns mit ihren Milizen wie Vieh behandeln, die plündern und so weiter". Dies habe dazu geführt, dass es den Taliban gelungen sei, sich zu einer "Widerstandsbewegung für Gerechtigkeit, für all das aufzubauen, was eigentlich der Westen und die Regierung sich auf die Fahnen geschrieben hat". 

Dass dies nun auch im Deutschlandfunk zur Sprache kommt, ist erfreulich. Erstaunlich ist nur, dass man von diesen Strukturen erst jetzt in den Medien erfährt, insbesondere in den Öffentlich-Rechtlichen Rundfunkanstalten von ARD, ZDF und Deutschlandradio, die sich gern einen kritischen Journalismus auf die Fahnen schreiben. So bleiben viele Fragen offen. Etwa die, wie viel die Bundesregierung von all dem wusste und warum sie nicht viel früher Konsequenzen gezogen hat. Aber zum Glück gibt es ja die schweizer Journalisten.