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Ende der Hindenburgstraße?

Linke, Grüne und SPD wollen Namensänderung – FDP fordert Aufklärung und nennt mutige Alternative 

Der Wehrmachtsoffizier Wim Hosenfeld soll neuer Namensgeber für die Hindenburgstraße werden. Diesen Vorschlag macht die FDP für den Fall, dass eine Umbenennung der Straße von der Stadtgesellschaft gewollt ist. Foto: Wikimedia Lüneburg, 22.04.2023 - Es war abzusehen. Nachdem der Rat der Stadt in seiner letzten Sitzung beschlossen hatte, betroffenen Anwohnern bei einer Straßenumbenennung in Lüneburg einen finanziellen Ausgleich zu zahlen, trudelte umgehend ein gemeinsamer Antrag von Linken, Grünen und SPD ein, die Hindenburgstraße umzubenennen. Dagegen stellt sich die FDP mit einem mutigen Änderungsantrag. Sie schlägt einen Offizier der deutschen Wehrmacht vor. 

"Sonja-Barthel-Straße" soll die Hindenburgstraße heißen, wenn es nach dem Willen von Linken, Grünen und SPD geht. Sie nennen dies ein "wichtiges Zeichen der aktiven und kritischen Erinnerungskultur in Lüneburg". Zudem sei seit dem letzten Versuch zur Umbenennung der "Diskurs um Erinnerungskultur in der Hansestadt vorangeschritten".

Warum Sonja Barthel? Dazu heißt es in der Antrags-Begründung: "Als Tochter einer Jüdin musste Sonja Barthel mit 16 Jahren die Schule verlassen. Sie überstand die Nazi-Diktatur, erlebte jedoch die Schrecken der nationalsozialistischen Diktatur in ihrer Familie, denn ihre Schwester und Großmutter mussten in ein Konzentrationslager. Sie selber wurde nicht inhaftiert, weil Nazigegner und Antifaschisten ihr halfen.
Unter dem Eindruck der Kriegs- und Diktaturerfahrung wurde Sonja Barthel nach dem Krieg Mitglied der VVN, Vereinigung der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten. In Lüneburg initiierte Sonja Barthel die Gründung der Geschichtswerkstatt, sie war Mitglied der GEW (Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft) und von 1964 – 1975 Mitglied im Stadtrat (für die SPD). Hier engagierte sie sich im Schulausschuss, im Kulturausschuss sowie im Jugendwohlfahrtsausschuss."

Und weiter: "Aufgrund ihrer Haltung hat Sonja Barthel eine Vorbildfunktion für die aktuelle und für nachfolgende Generationen. Wir halten sie für würdig, mit einem Straßennamen geehrt zu werden. Mit der Umbenennung der 'Hindenburgstraße' in 'Sonja-Barthel-Straße' wollen wir in Sachen Erinnerungskultur ein deutliches Zeichen setzen. Auch würde die Umbenennung die Sichtbarkeit von Frauennamen in der Öffentlichkeit steigern."

◼︎ Aufklärung über Hindenburg vor Umbenennung

Das will die FDP nicht mittragen. Sie will nicht nur eine andere Person mit der Umbenennung würdigen, sie möchte auch, dass einer Umbenennung eine kritische Auseinandersetzung mit dem jetzigen Namensgeber und zweiten Präsidenten der Weimarer Verfassung Paul von Hindenburg vorausgeht. 

Frank Soldan, Vorsitzender der FDP-Stadtratsfraktion, begründet den Antrag so: "Der letzte Antrag zur Umbenennung der Hindenburgstraße datiert meines Wissens aus 2015. Damals hieß es, dass ein Prozeß eingeleitet werden soll, bei dem die Stadtgesellschaft über Paul von Hindenburg, dessen Leben, Ansichten und historische Rolle zum Ende der Weimarer Republik informiert werden soll. Das erfolgte bisher leider nicht."

Deshalb fordert die FDP:

  • Vor einer Entscheidung zur Umbenennung der Hindenburgstraße wird eine schriftliche Befragung der Anwohnerinnen und Anwohner der Hindenburgstraße sowie der Grundstückseigentümerinnen und -eigentümer durchgeführt, ob sie mit einer Umbenennung einverstanden sind.
  • Vor der Entscheidung des Rates soll es wenigstens eine wissenschaftlich begleitete Informationsveranstaltung zur Biographie Paul von Hindenburgs geben, auf der sich die Mitglieder der Lüneburger Stadtgesellschaft über seine historische Rolle informieren können.
  • Wenn der Rat der Hansestadt Lüneburg beschließt, diese Straße umzubenennen, dann soll sie in Wilm-Hosenfeld-Straße umbenannt werden.
  • Wenn eine Umbenennung erfolgt, wird eine Informationstafel in der Straße aufgestellt, die die Namensentwicklung der Straße darstellt. Diese Informationstafel wird von der Verwaltung mit Hilfe des Arbeitskreises Erinnerungskultur erarbeitet.

"Bürgerbeteiligung ist immer dann in aller Munde, wenn es um Wahlkampf oder das Durchsetzen von Interessen geht. Wir finden, dass Bürgerinnen und Bürger auch dann zu beteiligen sind, wenn gravierende Änderungen in ihrem direkten Wohnumfeld vorgenommen werden sollen. Und die Umbenennung der Strasse, an der man wohnt, halten wir für solch eine gravierende Änderung", heißt es in der Begründung zum FDP-Antrag.

Und weiter heißt es, von einer Umbenennung seien nicht nur direkte Anwohner, sondern "alle Mitglieder der Lüneburger Stadtgesellschaft" betroffen.  Eine "politisch motivierte" Entscheidung werde jedenfalls "keine Akzeptanz" finden. Die Fraktion schlägt deshalb eine wissenschaftlich begleitete Informationsveranstaltung vor, auf der die neuesten Entwicklungen in der Hindenburg-Forschung vorgestellt werden.

◼︎ Wehrmachtsoffizier Wilm Hosenfeld soll neuer Namensgeber sein

Was aber, wenn die Hindenburgstraße doch umbenannt werden soll? Für diesen Fall macht die FDP einen für Lüneburger Verhältnisse durchaus mutigen Vorschlag: Wehrmachtsoffizier Wilm Hosenfeld. In Lüneburg ist er in interessierten Kreisen kein Unbekannter, schließlich vergibt die Museumsstiftung Lüneburg gemeinsam mit der Stadt Lüneburg und der Universitätsgesellschaft Lüneburg regelmäßig den Hosenfeld-Szpilman-Preis als "Preis der Erinnerungskultur", zuletzt am 19. April dieses Jahres. Sein Zweck: die Auszeichnung wissenschaftlicher, künstlerischer und pädagogischer Arbeiten, "die sich der Untersuchung ethischer Rettungs- und Widerstandshandelns in der NS-Zeit, aber auch Projekten der Zivilcourage im deutsch-polnischen Kontext widmen".

Wilhelm oder gemeinhin auch Wilm Hosenfeld ist einer der beiden Namensgeber des Hosenfeld-Szpilman-Preises. Warum er als neuer Namensgeber für die Hindenburgstraße infrage kommt, begründet die FDP mit Verweis auf dessen wohl herausragende Biographie als Offizier der deutschen Wehrmacht im Umgang mit polnischen Bürgern. Vor allem sein persönlicher Einsatz für den polnischen Juden Wladislaw Szpilman, der dem Terror des Warschauer Ghettos entkommen und mithilfe von Hosenfeld den Zweiten Weltkrieg überleben konnte, hat höchste Anerkennung in der internationalen Filmbranche erfahren: Das gemeinsame Schicksal von Wilm Hosenfeld und Wladislaw Szpilmann bildet die Grundlage für den herausragenden Film "Der Pianist" von Roman Polanski. 

◼︎ Außergewöhnliche Biographie

In der Begründung zu ihrem Antrag verweist die FDP auf die Hosenfeld-Biographie der internationalen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem. Hier Auszüge der sehr lesenswerten Biographie:

“In seinen Aufzeichnungen betonte Hosenfeld seine wachsende Empörung gegenüber der Unterdrückung der Polen durch das Regime, der Verfolgung des polnischen Klerus, der Misshandlung der Juden und, mit Beginn der 'Endlösung', sein Grauen vor der Vernichtung des jüdischen Volkes. 1943, nachdem er die Niederschlagung des Warschauer Ghettoaufstands miterlebt hatte, schrieb er in sein Tagebuch: 'Diese Tiere. Mit diesem entsetzlichen Judenmassenmord haben wir den Krieg verloren, eine unaustilgbare Schande, einen unauslöschlichen Fluch haben wir auf uns gebracht. Wir verdienen keine Gnade, wir sind alle mitschuldig. Ich schäme mich, in der Stadt herumzulaufen.'

Hosenfeld brachte seine tiefe Abscheu nicht nur in Worten zum Ausdruck, sondern leistete den Opfern aktiv Hilfe. Leon Warm floh 1942 während der Deportationen aus Warschau aus einem Zug nach Treblinka. Er schaffte es, in die Stadt zurückzukehren, und mit Hilfe Hosenfelds, der ihn im Sportstadium anstellte und mit falschen Papieren ausstattete, gelang es Warm, zu überleben. Hosenfelds Hilfe für einen anderen Juden wurde durch den Film 'Der Pianist' berühmt, der auf der Lebensgeschichte Władysław Szpilmans basiert. Nachdem seine ganze Familie ermordet worden war, glückte es Szpilman, das Ghetto zu verlassen und mit Hilfe polnischer Freunde (Janina Godlewska, Andrzej Bogucki und Czeslaw Lewicki wurden 1978 als 'Gerechte unter den Völkern' geehrt) auf der 'arischen' Seite zu überleben. Nach dem Warschauer Aufstand im Sommer 1944 wurde die polnische Bevölkerung aus der Stadt ausgewiesen, und Szpilman blieb allein zurück, versteckt in den Ruinen der zerstörten Stadt, hungrig, frierend, verängstigt und ohne jegliche Hilfe. Hier fand ihn Hosenfeld Mitte November 1944 und half ihm, die kritischen Monate vor der Befreiung zu überleben.

Im Januar 1945 wurde Hosenfeld von den Sowjets gefangengenommen. Fünf Jahre später, am 7. Mai 1950, verurteilte ihn ein Militärtribunal zu 25 Jahren Gefängnis. Der Prozess, so heißt es in dem eine Seite langen Urteil, wurde ohne Verteidigung geführt. Im Urteilsspruch wurde behauptet, Hosenfeld habe persönlich während des Warschauer Aufstands Festgenommene verhört und sie in Gefangenschaft geschickt, womit er den Faschismus in seinem Kampf gegen die Sowjetunion gestärkt habe.

Sechs Monate nach dem Prozess, im November 1950, kam Leon Warm nach Thalau, um Hosenfelds Frau zu besuchen. Ein polnischer Priester, der Hosenfeld in einem Kriegsgefangenenlager kennengelernt hatte, hatte Warm aufgesucht, um ihm vom Los seines Retters zu erzählen. Warm, der im Begriff war, aus Europa auszuwandern, schrieb auch einen Brief an Szpilman in Warschau. Es scheint unwahrscheinlich, dass die beiden Überlebenden, die ihre Familien verloren hatten, etwas hätten erreichen können, während sie, wie andere auch, hart arbeiteten, um die Scherben der Vergangenheit aufzulesen und zu versuchen, ein neues Leben aufzubauen in einer Welt, die wenig Interesse an der jüdischen Tragödie hatte. Hosenfeld starb 1952 in einem sowjetischen Gefängnis.

1998 stellte Szpilman bei Yad Vashem den Antrag, seinen Retter würdigen zu lassen. Zu dieser Zeit war Leon Warm bereits gestorben, aber sein Brief an Szpilman existierte noch, und seine Schwester schrieb aus Australien an Yad Vashem, um die Rettung ihres Bruders zu bestätigen. Bevor die 'Kommission zur Ermittlung der Gerechten' den Titel verleihen konnte, musste sichergestellt werden, dass Hosenfeld nicht an Kriegsverbrechen beteiligt war. Sobald seine Tagebücher und Briefe veröffentlicht worden waren, wurde der Fall der Kommission vorgelegt. Auch die Polnische Kommission zur Untersuchung von Nazi-Verbrechen bestätigte gegenüber Yad Vashem, dass sein Verhalten untadelig gewesen sei.

Am 25. November 2008 wurde Wilhelm Hosenfeld durch Yad Vashem als "Gerechter unter den Völkern" anerkannt.

Beide Anträge sind für die Sitzung des Rates der Stadt Lüneburg am 27. April eingereicht worden.