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Aufgelesen: Für Schwule oder für Fußball?

Foto: LGheute14.11.2022 - Erinnern Sie sich noch? 1974? Deutschland gewinnt im Endspiel der Fußballweltmeisterschaft mit 2:1 gegen die Niederlande. Doch das Land ist nicht nur Weltmeister geworden, es war auch Gastgeber des Turniers. Eigentlich ein Unding beim Blick auf die aufgeregte Diskussion um die in wenigen Tagen startende WM in Katar. Schließlich galt 1974 in Deutschland noch der "Schwulen"-Paragraph 175.

Lange Zeit stand Homosexualität in Deutschland unter Strafe, genau 122 Jahre lang. 1872 wurde der Paragraph 175 ins damalige Reichsstrafgesetzbuch aufgenommen. Er stellte sexuelle Handlungen zwischen Männern unter Strafe und ermöglichte somit deren Verfolgung. 1935 verschärften die Nationalsozialisten die Höchststrafe von sechs Monaten auf fünf Jahre Gefängnis. Hinzu kam der Paragraph 175a, der bei "erschwerten" Fällen sogar bis zu zehn Jahre Zuchthaus vorsah.

Aber auch nach dem Ende des Nationalsozialismus brauchte die neu gegründete Bundesrepublik Deutschland nochmals viele Jahre, bis sie sich entschied, den Paragraph endgültig zu streichen. Das war 1994, zwanzig Jahre nach der Fußball-WM in Deutschland.

Gesellschaftliche Anpassungen brauchen offenbar Zeit. Internationale Großveranstaltungen wie Fußball-Weltmeisterschaften oder die Olympischen Spiele können dabei ein treibender Motor für solche Veränderungen sein.

Die WM 1974 in Deutschland ist damals übrigens nicht boykottiert worden. Weder von Frankreich, wo Homosexualität bereits 1791 legalisiert wurde, noch von Italien, wo homosexuelle Handlungen 1887 mit dem Codice Zardanelli freigegeben wurden, noch von den Niederlanden, wo die Entkriminalisierung homosexueller Handlungen 1811 erfolgte, und auch nicht von Dänemark, wo homosexuelle Handlungen 1933 legalisiert wurden, um nur einige Länder zu nennen.

Der deutsche Übereifer, mit dem viele nun den Boykott der Fußball-WM in Katar fordern, gründet also nicht auf einen besonders weit in die deutsche Geschichte zurückreichenden liberalen Umgang mit Homosexuellen. Ein behutsamerer Blick auf das arabische Land, das sich mit der WM der internationalen Gemeinschaft öffnet und damit die Chance für langfristige Veränderungen ermöglicht, wäre daher zumindest in Deutschland angebrachter.